Buchtipps |
Nava Ebrahimi, Das Paradies meines Nachbarn
Ein neuer Chef, Ali-Najjar, stellt das Studio für Produktdesign in München auf den Kopf. Er ist arrogant, laut, er provoziert, entlässt Mitarbeiter, nur um sie durch eigene Leute zu ersetzen und renoviert sein Büro von Grund auf neu. Er ist ein Stardesigner, der schon in vielen Talkshows aufgetreten ist und man erfährt, dass er als Kindersoldat im ersten Golfkrieg der Achtzigerjahre war und es alleine mit 14 Jahren bis nach Deutschland geschafft hat. Niemand kann sich seiner Geschichte und seinem Charisma ganz entziehen. Vor allem nicht Sina, ein Mitarbeiter, den er nicht entlässt, sondern sogar seine Hilfe erbittet. Er soll für ihn in Dubai einen Mann treffen, der einen wichtigen Brief für Ali-Najjar hat. Sina nimmt den Auftrag an, denn er befindet sich in einer Midlife-Crisis und in seiner Ehe kriselt es. Er weiß nicht, auf was er sich eingelassen hat. Was hat es mit diesem geheimnisvollen Unbekannten und dem Brief auf sich?
Ein Buch über den Irakisch-Iranischen Krieg, über Schuld und Vergebung, Fremd sein und Ankommen, aber auch über die Identität als Mann und die Verantwortung als Eltern. Trotz des schweren Themas ist es witzig und originell geschrieben. Ein Buch mit Tiefgang.
Alex Rühle, Europa – wo bist du ?
Unterwegs in einem aufgewühltem Kontinent
Der Schreibstil , die Erzählweise macht das Buch bei aller authentischen Ernsthaftigkeit sehr unterhaltsam. Mit der Frage, wie Europa von den Menschen der einzelnen 33 Länder auf seiner Reiseroute von über 20000 km wahrgenommen wird startet Rühle per Interrail in Athen. Keines der Mitgliedsländer wird auf der 14 wöchigen Reise vom 10.März bis 23.Juni 2022 ausgelassen. Besucht werden nicht nur die jeweiligen Hauptstädte, sondern auch kleinere Orte, Zufallsentdeckungen. Das wichtigste der Reise waren für den Autoren die Begegnungen mit den Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, sozialen Schichten und historischen Erfahrungen.
Ein Vorwurf :das offizielle Europa kommuniziere zu wenig transparent und wenn, dann oft im Stil des pedantischen Rechthabers, der über die „schrecklichen“ Mitgliedsstaaten jammert.
Den Hunderten von Menschen, mit denen der Autor ins Gespräch kommt, ist bewusst , wie Umwelt und Frieden untrennbar miteinander verbunden sind. Man erfährt gern, dass vor allem die Jugend positiv europäisch denkt.
Im Buchinnendeckel befindet sich eine Reiserouten-Übersichtskarte. Schade, dass sich Rühle oder der Verlag nicht zu einer kleinen Auswahl von Fotos für das Buch entscheiden konnte. Das hätte dieses überaus gelungene Europa Buch noch bereichert.
Wo vielleicht das Leben wartet
Hungernde, kranke Menschen wo man auch hinsieht. Im Wolgagebiet herrscht 1923 eine unvorstellbare Hungersnot. Es fehlt an allem: Nahrung, Kleidung, Medikamente, Brennmaterial. Möchte man so ein Buch überhaupt lesen oder gar empfehlen? Schon nach den ersten Seiten, zieht das Buch einen in seinen Bann. Die Autorin schafft es mit ihrer bildhaften Sprache, die an russische Märchen erinnert, dem Leser ein Dunkles Kapitel der Sowjetunion Nahe zu bringen. Der ehemalige Soldat Dejew erhält den Auftrag 500 elternlose Kinder zu retten, indem er sie mit einem Zug von Kasan ins wärmere Samarkan bringt. Wird er es schaffen?
Gusel Jachina schafft es das Unerträgliche so zu schildern, dass man wie bei einem Märchen mit fiebert. Es ist bei allem optimistisch, die Figuren wachsen einem sofort ans Herz und es ist vor allem zutiefst human. Ein Buch über die Hoffnung, Liebe und was das Leben ausmacht. Daher eine klare Leseempfehlung. Gerade in der heutigen Zeit.
Sergio del Molino, Leeres Spanien
Spanien war diesjähriges Gastland der Frankfurter Buchmesse und präsentierte sich mit vielen entdeckenswerten Büchern. Eines davon ist „Leeres Spanien“ von Sergio Del Molino. Ländliche Gegenden auf der Iberischen Halbinsel waren noch nie dicht besiedelt. Die Landflucht in die Kolonien hielt 500 Jahre an und hat seine Spuren hinterlassen. Dazu kam im Rahmen einer rücksichtslosen Industrialisierung unter Franco zwischen 1950-1970 geradezu ein Exodus. Rund 75% der Spanier leben in den wenigen Großstädten vor allem in Madrid sowie an den Küsten. Die übrigen Gebiete sind nur sporadisch, jedoch meist nahezu unbewohnt. Molino zeichnet diese Entwicklung nach, dies ist jedoch erst der Anfang seines Buches. Ihn interessieren die kulturellen Folgen der Landflucht. Er schaut darauf, wie die Migranten die Traditionen aus ihren Regionen in die Ballungsräume mitbrachten und diese veränderten. Das Buch wurde nicht nur zu einem Bestseller, sondern entfaltete eine ungeahnte Wirkung über Spanien hinaus. Es liegt mehr daran, daß es keine Lektüre nur für Spezialisten und Einheimische ist. Es ist eine alternative Gebrauchsanweisung und gehört ins Gepäck jedes Spanienreisenden und Liebhabers.
Philipp Blom, Die Unterwerfung
„Macht euch die Erde untertan!“ so steht es in der Bibel. Die Menschheit glaubt mit diesem Aufruf das Universalrecht der Ausbeutung unseres Planeten rechtfertigen zu können. Beherrschen statt Behüten; wer sich diesem Ausspruch widersetzt bekam es mit Kolonisatoren und Geschäftemachern zu tun. Die Bauern wussten und wissen zu viel über die Natur, um sie sich einfach zu unterwerfen, auch wenn auch sie heute in den Zwängen der Industriegesellschaft stecken. Philipp Blom beschreibt in seinem zu rechten Zeit erschienenen Buch den Anfang und das Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur. Das Buch ist mit sehr anschaulichen Abbildungen, Karten und Statistiken versehen.
Ebenso lesenswerte Werke des Autoren: Die italienische Reise / Die Welt aus den Angeln / Der taumelnde Kontinent / Die zerissenen Jahre / Böse Philosophen /Was auf dem Spiel steht.
Alex Capus: Susanna
Alex Capus neuer Roman handelt von der Malerin und Bürgerrechtlerin Susanna (Caroline Welden) aus Basel, die sich als erwachsene Frau mit ihrem Sohn auf den Weg macht, „Sitting Bull“ zu helfen.
Capus schafft es mit seiner schönen und doch distanzierten Sprache, dass man als Leser langsam abtaucht ins 19. Jahrhundert. Man belauscht Gespräche in Kneipen über die Revolution, begleitet die beiden mit der Dampflock durch öde Landschaft des Wilden Westens, trifft auf heruntergekommene Hotels und eine Männerwelt, der sich Susanna mutig entgegenstellt und bestaunt die Eröffnung der Brooklyn Bridge und den Einzug der ersten Glühbirnen in den Städten. Eine faszinierende Geschichte einer mutigen Frau inmitten geschichtlicher Umbrüche.
Norris von Schirach : Beutezeit
Die sich auflösende Sowjetunion zeigt sich gesellschaftlich wie ökonomisch in einer äußerst dynamischen Veränderung. Anton glaubt sich dank seiner kaufmännischen Ausbildung in London sowie jahrelanger Erfahrungen im Russland der Jelzin Ära für eine neue Herausforderung in einem der Folgestaaten Zentralasiens geeignet. „Raubtierkapitalismus im Wilden Osten“ – so könnte man Antons Erlebnisse in einem Satz beschreiben. Kasachstan- Anarchie und Korruption sind in dieser Wirtschaftswelt ohne Regeln und Gesetze die Normalität. Informativ, unterhaltsam und spannend ist dieses sehr gut geschriebene Buch mehr als ein lesenswerter Wirtschaftskrimi. „Wir konnten nur scheitern “ philosophiert Anton am Ende einer schweren Krise. Dieses Scheitern ist allerdings so grandios wie eine Wagner Oper , die der Musikfreund Anton , so sehr liebt. Anton will so gut wie möglich sauber bleiben, was nicht nur von seinen Partnern und Mitarbeitern, sondern auch von den schönen Frauen in seiner Umgebung als verrückte Marotte belächelt wird.
Niall Ferguson, DOOM

Fester Einband
592 Seiten
In der Geschichte der Menschheit sind Apokalypsen, Katastrophen und Weltuntergänge eine nicht enden wollende Konstante. Untergangsvisionen finden wir in allen Weltreligionen und Mythologien.
Katastrophen treten in sehr unterschiedlichen Formen auf und erzeugen oft Kettenreaktionen, die dann noch in gesteigerter Form auftreten. Pandemien und Kriege sind es, die der Menschheit in der Geschichte am meisten zu schaffen gemacht haben. Hungersnöte sind oft Folgen von Kriegen, Unterernährung führt wiederum zu Seuchen und Pandemien. Seuche entstanden auch in der Vergangenheit oft in Asien, verbreiteten sich von dort in der ganzen Welt aus, wobei die westlichen Länder oft schlecht vorbereitet waren und als Folge stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wir können nicht wissen, wie die nächste Katastrophe aussehen wird. Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, unsere politischen Systeme widerstandsfähiger zu machen. Wer im Namen der öffentlichen Sicherheit einen neuen Totalitarismus der allgegenwärtigen Überwachung akzeptiert, der macht sich nicht klar, dass einige der schlimmsten in diesem Buch beschriebenen Katastrophen von totalitären Regimen verursacht wurden.
Die fast 600 Seiten des Wirtschaftswissenschaftlers und Historikers sind sehr gut gegliedert und mit Hintergrundwissen und Fakten dokumentiert.
Originaltitel: Doom: The Politics of Catastrophe / Hardcover mit Schutzumschlag, 592 Seiten/ ISBN: 978-3-421-04885-1 / Erschienen am 13. September 2021
Safranski, Einzeln sein
Fester Einband
288 Seiten
Über die Besinnung und Reflektion, über das „Einzeln sein“, das eigene Ich haben sich bereits die griechischen Philosophen Gedanken gemacht. Im Mittelalter ist der Einzelne in dem Konstrukt der sozialen und religiösen Gemeinschaft aufgegangen. Für Safranski beginnt die Erforschung des „Einzeln sein“ mit der Renaissance über die Aufklärung bis zu den Individualisten und Existenzialisten.
Die Liste der großen „Einzelnen“ ist lang von De Montaigne über philosophische und literarische Genies, wie Rousseau, Diderot, Stendhal, Kierkegaard, zur Naturphilosophie von Emerson und Thoreau. Stefan George, der sich als Träger seiner auf sich fixierten Kunstreligion verstand. Karl Jaspers, dem es um die Philosophie der Existenz ging und Heidegger sowohl bewunderte als auch entschieden ablehnte.
Die große Kenntnis Rüdiger Safranskis über Heidegger und somit auch Hannah Arendt merkt man an den Kapitel 13 und 14 deutlich an. Dies trifft auch für die brillant geschriebene Darstellungen über Jean-Paul Sartre bis Ernst Jünger zu.
Das „Einzeln sein“ ist eine Zeiterscheinung unserer Gesellschaft geworden. Allein in Deutschland existieren 18 Millionen Einzelhaushalte. In anderen Ländern der westlichen Welt ist es ähnlich, fast jeder Vierte lebt allein. Was macht das Alleinsein mit uns? Rüdiger Safranski beleuchtet dieses Beispiel Thema anhand von Beispielen des Wirkens großer Persönlichkeiten.
Ein äußerst lesenswertes Buch, das im renommierten Hanser Verlag erschienen ist.
Herfried Münkler, Marx Wagner Nietzsche. Welt im Umbruch

Fester Einband
720 Seiten
Herfried Münkler gerade erschienenes neues Buch handelt von den drei großen Deutschen des 19. Jahrhunderts Wagner, Marx und Nietzsche. Deren Schaffen zeigte in der ganzen Welt Wirkung. Alle drei hatten mit Krankheiten zu kämpfen, die starken Einfluss auf Ihr Werk hatten. Der ständig verschwenderische Wagner teilte mit dem fast permanent überschuldeten Marx die revolutionären Bestrebungen. Wobei Wagner auf praktische Erfahrungen im Straßenkampf in Dresden verweisen konnte, während Marx die gesellschaftliche Veränderung wissenschaftlich analysierend untersuchte. Wagner sah die Opern Musik nicht nur zur Unterhaltung bestimmt, sondern schaute von der Bühne ins Publikum mit dem Ziel dieses aus dessen unaufmerksamen Zerstreuung zur konzentrierten Aufmerksamkeit führen zu können.Das äußerst beachtliche Arbeitspensum Wagners war verknüpft mit gerade perfektionistischer Selbstvermarktung. In Ludwig II. , König von Bayern, hatte er die ideale Geldquelle für seine Projekte gefunden. Nietzsche verachtete Bürger und Bürgerlichkeit noch mehr und grundsätzlicher als Marx und Wagner. Wobei letzterer sich immer mehr mit der Bourgeoisie arrangierte. Gleich im ersten Kapitel gelingt es Münkler teilweise Nähe, Distanz, aber auch Abneigung der drei untereinander darzustellen Der im 19.Jahrhundert allgemein grassierende Antisemitismus war bei allen dreien, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten vorhanden. Wirkliche Nähe, ja sogar Freundschaft verband Nietzsche und Wagner und er war dessen erster „Versteher“. Alle drei befassen sich mit Goethe, Hegel, Feuerbach und Heine. Letzterer wird von Nietzsche bewundert, Marx und Wagner treffen ihn persönlich in Paris. Nietzsche war, was für einen Philosophen keineswegs selbstverständlich ist, daran interessiert seine Überlegungen in einem möglichst für alle verständlichem, geradezu literarischen Sprache zu präsentieren. Das Marxsche Werk fußt auf der Verarbeitung und Analyse des Scheitern der Revolution von 1848 und was dieses für ihn bedeutete. Erstaunlicherweise haben laut Münkler Marx und Nietzsche kaum voneinander Notiz genommen. Dieses kenntnisreiche Buch hat Münkler sich zu seinem 70.Geburtstag selbst als Geschenk gemacht. Sehr zu empfehlen für anspruchsvolle Leser.